Die Ninja Turtles waren in den vergangenen Monaten wieder in aller Munde. Fans der kämpfenden Kröten konnten zwei große Gaming-Highlights feiern: nicht nur ist mit Return of the Shredder ein von Fans und Presse gelobtes Beat 'em Up erschienen, das spielerisch an die Erfolge der frühen Neunziger anknüpft. Mit der Cowabunga-Collection erschien außerdem eine vollumfängliche Sammlung dieser älteren Klassiker aus Arcade und Heimkonsolen. Als wäre das nicht genug, gibt es mit "Rise of the TMNT" (2022) einen neuen Animationsfilm bei Netflix.
In Deutschland relativ wenig Beachtung finden hingegen die Comics, die in den USA von IDW veröffentlicht werden und von Panini nur teilweise lokalisiert und bald darauf eingestellt worden sind. Extrem schade, denn dies ist eine der aktuell besten Action/Superhelden-Reihen, die den Pfad der ursprünglichen Mirage-Comics vor der populären 90er-Animationsserie aufnimmt und weiterführt.
Was wäre meine Kindheit ohne die Turtles gewesen? Jeden Samstag auf RTL verteilten in den 90ern vier pizzaverrückte Schildkröten und ihr Sensei, die Ratte Splinter, Karate-Kicks an die Superschurken von New York City. Eine Prämisse, die weit von Bodenständigkeit entfernt ist und wahrscheinlich bei vielen Eltern großes Stirnrunzeln erzeugt hat. Neben der Serie und den später durchaus gelungengen Realfilmen (ok, es geht von Teil eins bis drei nicht gerade bergauf) war vor allem das Spielzeug der Hammer. Die superhochwertigen Actionfiguren sind auch heute noch ein Maßstab. Man denke allein an den Pizzawerfer, einen Panzerwagen, der mit Pizza als Munition beladen wurde und diese unter einem Heidenlärm 3m weit abfeuern konnte.
Über die Geschichte der Turtles möchte ich nicht allzu viele Worte verlieren: Wichtig ist, dass sie auf einer 1984 gestarteten Independent-Comicserie basieren. Diese wurde von den Kumpels Peter Laird und Kevin Eastman als Parodie auf populäre Superhelden angelegt und als Schwarz-Weiß-Print in Kleinstauflage veröffentlicht. Wichtigstes Vorbild war hierbei Daredevil. In der Geschichte kämpfen vier mutierte antropomorphe Schildkröten im Stile fernöstlicher Kampfkunst gegen einen Superverbrecher namens Shredder. Ursprünglich als One-Shot angelegt, folgten weitere Fortsetzungen, die in der zweiten Hälfte der 80er zu einem Megaerfolg avancierten: mit dem Start einer (deutlich kindgerechteren) Animationsserie (1987-1996) und der dazu passenden, legendären Actionfiguren-Linie schwappte die Schildkrötenwelle auch nach Europa. Kinofilme und weitere TV-Serien folgten, parallel dazu weitere Comics, die stärker auf der TV-Serie basierten und nicht mehr von Eastman und Laird stammten.
Da die beiden Schöpfer sich bitterböse zerstritten, wurde mit den Turtles lange Zeit ein ziemlicher Ausverkauf ohne klaren roten Faden betrieben.
2011 erwarb dann der amerikanische Verlag IDW Publishing die Rechte und wagte den Neuanfang. Deutlich näher an der ursprünglichen Vorlage gehalten und mit Schöpfer Kevin Eastman an Bord, mündete dieser Versuch in einer starken Hauptreihe, die bis heute andauert und sogar Crossover mit u. a. Batman bietet. Aus meiner Sicht verbindet die Reihe alle Stärken der originären Mirage-Comics, der ersten Zeichentrickserie und des ersten Kinofilms: düstere Großstadtkulisse, Ausflüge in andere Dimensionen, Mutanten mit dem Herz am rechten Fleck und die Extraprise fernöstliche Folklore. Der Humor kommt dabei nie zu kurz, ohne dass die Serie gewollt witzig sein will und in Klamauk ausarten würde.
Mirage Comics: Das Original von Eastman und Laird
Die erste Comicserie von 1984, die independent in Schwarz-Weiß-Heften veröffentlicht wurde, handelt primär vom Kampf gegen Shredder und den Foot Clan - hinzu kommen Killerroboter, Triceratops-Aliens und der Wissenschaftler Baxter Stockman, der auch aus der Zeichentrickserie bekannt ist.
Dankbarerweise wurde die Serie bei IDW als "The Ultimate Collection" neu aufgelegt (Paperback und Hardcover). Diese enthält neben der Hauptstory die sogenannte Micro-Series: One-Shots, die sich um einzelne Hauptcharaktere drehen und persönliche Hintergrundgeschichten bieten. Besonders schön: Zwischen den Kapiteln gibt es ausführliche Notizen der Schöpfer über den kreativen Entstehungsprozess, die sich kein Fan entgehen lassen sollte. Auch Lesern, denen der alte Zeichenstil zu trocken sein könnte, rate ich gerade aufgrund dieses Extras unbedingt zum Kauf!
Die Ultimate Collection besteht aktuell aus sechs Bänden, der siebte Band soll im Februar 2023 erscheinen. Alternativ erden die Stories auch nachkoloriert als "TMNT Color Classics" aufgelegt.
Tales of the Teenage Mutant Ninja Turtles: Mirages Zugabe
In "Tales of the TMNT" finden sich Geschichten, die ab 1987 als Ergänzung der Mirage Abenteuer erdacht worden sind. Zu Beginn federführend von Eastman und Laird. Artstyle und Storytelling entsprechen daher anfangs der Vorgängerserie, bevor dann andere Künstler das Ruder übernehmen.
Charaktere wie Leatherhead oder der Rattenkönig wurden hier initial eingeführt.
Ich persönlich bin kein großer Fan der Cover-Artworks und noch nicht zur Lektüre dieser Serie gekommen, von der es acht Bände gibt. Die Etablierung bekannter Schurken macht sie aber attraktiv und ein Blick in den ersten Band sieht vielversprechend aus.
Interessant ist außerdem, dass hier u. a. das Comic-Schwergewicht Rick Remender (Black Science, Deadly Class) als Autor und Zeichner tätig war.
Teenage Mutant Ninja Turtles Classics
In dieser, etwas seltener zu findenden, Classics-Collection gibt es eine Zusammenstellung diverser Kurzgeschichten von verschiedenen Künstlern - nach allem, was ich gelesen habe, schwankt nicht nur die Qualität, sondern es gibt auch Redundanzen, da einige der Stories auch in anderen Ausgaben erschienen sind (primär in den "Tales of the TMNT").
Mir war es bisher keinen Kauf wert, mich persönlich zu überzeugen, da die Leserreviews ein sehr gemischtes Bild zeichnen (mit vielen Tendenzen nach unten). Dieses negativ behaftete Bild zieht sich leider durch alle Bände des "Classics"-Labels.
Nicht verwechseln darf man diese Ausgaben mit den "Black & White Classics" und "Color Classics", die Inhalte unterscheiden sich!
Archie Comics: Turtles Adventures
Diese Reihe aus den frühen 90ern orientiert sich stärker an der TV-Serie und ist etwas kindgerechter als die Mirage Comics. Dennoch winken einige fast schon bizarre Storylines mit seltsamen Charakteren wie z. B. Cudley, der transdimensionalen Kuh oder Wyrm, der aus einem norwegischen Wurm mutiert ist. Kenner der Actionfiguren werden hier bekannte Gesichter treffen.
Auch diese Serie wird bei IDW unter dem gleichen Titel in Sammlungen verkauft, von denen es 16 Bände gibt.
Aus meiner Sicht bietet diese Serie einige kuriose Abenteuer und hat einen wunderbaren 90er-Charme, ist aber kein empfehlenswerter Einstieg. Als Zusatzlektüre bietet sie einzigartige Unterhaltung mit skurrilen Abenteuern, ist aber nicht durchgängig von hoher Qualität. In Deutschland wurden die Adventures bei Condor verlegt, diese Ausgaben gibt es zum kleinen Preis z. B. bei Ebay zu finden. Außerdem sind in den Condor-Ausgaben Stories von britischen Künstlern enthalten, die ausschließlich für den europäischen Markt bestimmt waren.
IDW Publishing: Der große Reboot
Der 2011 bei IDW gestartete Reboot der Turtles ist der Startschuss der Serie, die bis heute läuft und in über 130 Ausgaben sowie zahllosen Spin-Offs mündete. Die Comics bedienen sich der leicht rauen, aber humorvollen Tonalität der Original-Comics, Eastman ist künstlerisch mit an Bord und die Zeichnungen sind wunderbar "gritty". Charaktere erhalten Tiefe und neben alten Bekannten wie April und Casey Jones kommen neue Helden und Schurken hinzu, die das Universum bereichern. Herauszuheben ist die mutierte Schneefüchsin Alopex, die ein bisschen den Wolverine der Turtles-Comics darstellt und zum großen Fanliebling wurde.
Erzählerisch ist toll, dass man wie bei den Mirage Comics den Kniff benutzt, parallel zur Hauptstory sogenannten Micro-(und Macro)-Stories zu veröffentlichen, die sich um jeweils einen Protagonisten oder eben Antagonisten drehen.
Diese Spin-Offs gehören zu den großen Highlights, denn wer wollte nicht schon immer die Backstory von Krang erfahren und miterleben, wie bedrohlich die anarchischen Handlanger Bebop und Rocksteady sein können, wenn man sie ungehindert walten lässt? Die Micro-Ausgaben sind ein Must-Have zum Lesestart.
Da die Reihe in Deutschland nach 10 Bänden 2016 eingestellt wurde (entspricht #1-28), empfiehlt sich eine von zwei Arten, hierzulande an ihr teilzuhaben: entweder man greift zur "IDW Collection", die die Hauptserie und Micro-Series in aktuell 14 Bänden vereint (auch sehr schicke Hardcover) oder man nutzt digitale Kanäle, also entweder die IDW-App oder Comixology. Ich bin nicht (mehr) der größte Comixology-Freund, aber die IDW-App ist so unterirdisch, dass ich sie niemandem guten Gewissens empfehlen kann. Bei Comixology lassen sich einige Ausgaben kostenlos herunterladen - unbedingt mal reinschauen. Generell ist diese Reihe mit der #1 von 2011 neben den Mirage Comics der empfehlenswerteste Einstieg. Einen Überblick über die ersten Events und Reading Order findet ihr hier:
Bonus: Die besten Spin-Offs
Turtles in Time: Namentlich an den bekannten SNES-Klassiker angelehnt, verschlägt es die Turtles auf eine Reise in die Vergangenheit quer durch verschiedene Epochen mit Dinosauriern, Piraten und Samurai. Abwechslungsreich, da jede Zeitebene von anderen Künstler*innen verwirklicht wird.
Turtles vs. Batman: Hiervon gibt es drei Volumes, die alle von James Tynion IV. geschrieben wurden. Diese werden in deutscher Sprache bei Panini vertrieben.
Bebop & Rocksteady Hit the Road: Zwei der abgefahrensten und brutalsten Charaktere im Turtles-Universum auf einem Road Trip im Wettlauf gegen die Zeit.
The Secret History of the Foot Clan: Wichtige Bereicherung der Turtles-Lore - der Titel hält, was er verspricht.
Shredder in Hell: Was ist nach Oruku Sakis Tod mit ihm geschehen? Wie konnte er als Shredder auf die Erde zurückkehren? Origin-Story des Hauptwidersachers.
Jennika: In dieser Story geht es um das ehemalige Elite-Mitglied des Foot-Clans namens Jennika und wie sie zu einem weiteren Mitglied der Turtles wurde.
TMNT/Ghostbusters: Das Aufeinandertreffen der legendären 4er-Gruppen in New York City ist ein Wirklichkeit gewordener Traum aller 80s- und 90s-Kids!
The Last Ronin: Diese Koproduktion von Eastman, Laird und Tom Waltz wurde in den höchsten Tönen gelobt und verschlägt uns in eine postapokalyptische Zukunft, in der ein einsamer Schildkröten-Ninja nach Gerechtigkeit sucht. Must-have!
Neben den vorgestellten Reihen existieren außerdem Comics, die auf den Nickelodeon-Serien basieren. Primär die "Amazing Adventures" und "TMNT Animated" gehören hierzu. Sie richten sich an ein deutlich jüngeres Publikum, haben mit Sicherheit ihre Berechtigung, aber werden generell nicht als Kanon betrachtet.
Ich hoffe, dass ihr einen ersten guten Überblick erhalten habt. Dieser hierzulande leider unterschätzte Superhelden-Comic ist in seinen Story Arcs und Spin-Offs deutlich stringenter und oft auch qualitativer als vieles von Marvel und DC. TMNT bietet ein koherentes Universum, spannende Story Arcs mit großen, aber nicht überbordenden Events und kreative Charaktere mit Tiefe in einer erwachsenen Aufmachung. Deutlich weniger Ausschuss als bei herkömmlichen Superhelden, weniger verwirrende Überschneidungen mit parallelen Serien und eine Reading Order, für die man keinen Doktortitel benötigt. Selbst Komplettisten brauchen keine Angst vor dem Nervenzusammenbruch haben, eine vollständige Sammlung wäre ein zwar ein sehr ambitioniertes, aber durchaus mögliches Ziel.
Den einfachsten ersten Eindruck erhaltet ihr, wie schon erwähnt, bei Comixology, wo ihr einige Ausgaben kostenlos lesen könnt. Also: packt die Nunchakus ein, schnappt euch ein Stück Pizza und begebt euch in die Kanalisation!
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