Unterm Strich bin ich sehr zufrieden mit dem Kinojahr 2022. Ich war ca. 40 Mal im Kino (ein paar Wiederaufführungen eingeschlossen) und konnte vom Blockbuster über das Kammerspiel bis zum Anime vielfältig unterhalten werden. Ein paar Neuerscheinungen gab es nicht im Lichtspielhaus zu bewundern, sondern beim Streamingdienst der Wahl - hier konnte vor allem Netflix glänzen und neben den üblichen Totalausfällen (wie z. B. Red Notice oder The Gray Man) einige echte Perlen zutage fördern.
Orientiert habe ich mich für dieses Ranking am deutschen Release. Einige wenige Filme sind zwar offiziell als 2021 gelistet, aber in Deutschland erst ein Jahr darauf erschienen.
Bevor wir starten noch ein paar Honorable Mentions, die die Top10 knapp verpasst haben:
So konnte mich "Good Luck to You, Leo Grande" mit seiner klischeebefreiten Darstellung einer Frau im mittleren Alter auf der Suche nach sexueller Erfüllung wirklich positiv überraschen. Ein Beweis dafür, dass eine guter Film oft nicht mehr braucht, als zwei Darsteller*innen und ein Set.
In eine ganz andere Richtung ging dann "Dragon Ball Super: Super Hero". Die Dragon Ball Filme kamen selten über das Mittelmaß hinaus und sind meist ein nett anzuschauender Fanservice. Das hier war aber ein überragender Fanservice, mit stark inszenierter Action, großer Leichtigkeit, viel Humor und einem wirklich erfrischenden Anstrich, den die Reihe gut vertragen konnte.
Mit "Men" gab es außerdem einen weiteren kompetenten Art-Horror von A24, "Incantation" lieferte okkulten Found-Footage-Horror aus Taiwan und in "Nightmare Alley" findet sich ein intensiver Neo Noir vom mexikanischen Großmeister Guillermo del Toro. Und zu guter Letzt möchte ich auch "White Noise" mit Adam Driver nicht unerwähnt lassen, dass zwar etwas sperrig und eigenartig daherkommt, aber auch eine interessante Filmerfahrung ist.
10. The House
Diese britische Stop-Motion-Anthologie bietet drei unheimliche und bizarr-humorvolle Kurzgeschichten, deren Gemeinsamkeit das titelgebende Haus ist. Dabei springen die Stories in der Zeit vorwärts und stellen die sehr unterschiedlichen Hausbewohner vor, die es dort mit zahlreichen Herausforderungen zu tun bekommen: mal kommt es zur Überschwemmung, ein anderes Mal gibt es ein ganz kleines Problem mit Ungeziefer... Die Bilder besitzen einen unverbrauchten Stil, die Atmosphäre gestaltet sich bizarr bis mysteriös und bietet durch die skurrilen Einfälle immer wieder Grund zum Lachen. Ein Animationsfilm für Erwachsene und definitiv einer der Geheimtipps auf Netflix, der leider relativ unbeachtet geblieben ist.
9. Im Westen nichts Neues
2022 brachte die Realität des Krieges nach Europa und machte es vielen bis dahin erklärten Pazifisten schwer, bei ihrer Haltung zu bleiben. Ohne auf die Komplexität solcher Konflikte einzugehen: die Kunst und speziell der Film müssen in solchen Zeiten einen Beitrag leisten und mit "Im Westen nichts Neues" wurde ein Klassiker der Antikriegsliteratur neu verfilmt.
Im Roman von 1928 spielen besonders die Gedanken und Beziehungen des Protagonisten Paul eine Rolle, der als junger Mann kriegsbegeistert an die Front gezogen wird und dort den Horror des ersten Weltkriegs erlebt. Der Film dagegen ist reines Erfahrungskino und setzt auf Emotionen, Eindrücke und starke Bildsprache. Und dies funktioniert sehr effektiv und transportiert die Botschaft auf einer rein audiovisuellen Ebene. Beeindruckend inszeniert, darf der Film sogar auf einen Oscar für den besten internationalen Film hoffen.
8. She Said
"She Said" erzählt die Entstehung des preisgekrönten New York Times Artikels, der 2017 die #metoo-Bewegung auslöste. Die Konsequenzen spüren wir noch heute, erst letzten Monat wurde das zweite Urteil gegen Harvey Weinstein verkündet, er wird nie wieder als freier Mann leben.
Der Journalismus-Thriller im Stile von Filmen wie "Spotlight" folgt zwar den Genrekonventionen, aber hat mich mit seiner Darstellung der Geschichte komplett mitgerissen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so angespannt im Kino saß. Das Ende des Films steht von vornherein fest, aber trotzdem war die Erleichterung im Finale so groß, dass ich aufatmend in den Kinosessel gesunken bin. Und dort erst einmal minutenlang ausharrte.
7. Inu-oh
Es gab im letzten Jahr für den deutschen Anime-Fan gleich zwei Werke, die den Zugang zur Musik suchen. Während mich "Belle" jedoch eher enttäuscht hat, ist mir "Inu-oh" sehr stark im Gedächtnis geblieben. Vom verspielten Zeichenstil und dem bereits wunderbaren Intro angefangen, bietet dieser Film eine Erfahrung, die sich deutlich von anderen Anime abhebt. Auch den Mut, schlagartig den Mittelteil als halbes Musical zu inszenieren, bewundere ich. Die Umsetzung dessen ist auch sehr gut gelungen, da man einen passenden, zeitlosen und universalen Musikstil gefunden hat.
Für Filmfans, die etwas mit japanischer Folklore und tragischen Märchen anfangen können, eine ganz große Empfehlung. Ich bin sehr froh, hier im Kino gewesen zu sein.
6. Nope
Sicherlich der bislang unzugänglichste Film von Jordan Peele, der auch ein großes Marketingproblem hat, da er als Horror vermarktet wurde, aber nur schwer dort einzuordnen ist. Zwar hat der Film große Suspense-Teile im Stile von "Jaws", hat aber genau so viele Elemente des Western. "Nope" besitzt sehr viele Ebenen und geht neben seiner Handlung auf Themen wie (Tier-)Ausbeutung, Verschwörungsideologien und moderne Medien ein. "Nope" verwirrt den Zuschauer, geht ungewohnte Wege und benötigt ein bisschen Zeit zum nachwirken, kam dann aber umso stärker bei mir an.
5. Guillermo del Toro's Pinocchio
Was für ein Seitenhieb von Netflix an Disney, parallel zu deren misslungener Realverfilmung mit Tom Hanks eine eigene Interpretation von Pinocchio auf den Markt zu werfen. Und del Toros Variante setzt der klassischen Geschichte die Krone auf. Nicht nur ist der Stop-Motion-Stil bahnbrechend (ich konnte es zunächst gar nicht fassen und habe alles für CGI gehalten), die Verlegung der Geschehnisse in das faschistische Italien unter Mussolini verleiht dem Werk zusätzliche Tiefe.
Eine beeindruckende Erzählung, die nicht nur optisch besticht, sondern auch alle emotionalen Tasten drückt. Und ein gutes Beispiel dafür, wie man heutzutage nicht einfach "Content kreiert", sondern einen Filmemacher seine Vision umsetzen lässt.
4. The Menu
Anya Taylor-Joy mausert sich immer mehr zum absoluten Superstar und beweist mal wieder sehr guten Geschmack bei der Auswahl ihrer Rollen. In dieser Satire besucht eine auserlesene Gruppe ein Luxusrestaurant auf einer abgeschnittenen Insel, um das neueste Menü des berühmten Sternekochs zu probieren.
Gerade das hohle Geschwafel einzelner Charaktere und die pathetischen Monologe des von Ralph Fiennes super gespielten Chefs sind ein großer Spaß. Leider wird der Film immer wieder als reine Parodie auf die Welt der Luxusküche verstanden, was der deutlich interessanteren Botschaft rund um die Rezeption von Kunst aber nicht gerecht wird.
3. RRR
Rise. Roar. Revolt. Für viele Zuschauer war es das Jahr, in dem sich das Tor zum indischen Blockbusterkino geöffnet hat, für mich selbst auch. Hier warten noch viele Schätze darauf entdeckt zu werden. Zwar waren mir einzelne indische Filme wie "3 Idiots" bereits positiv aufgefallen, aber die Form des Action-Überwältigungskinos eines "RRR" ist nicht von dieser Welt. Unglaublich inszeniert, hier werden keine Gefangenen gemacht.
Diese Bromance ist der bis dato erfolgreichste indische Film aller Zeiten und man muss ihn erlebt haben, sonst hat man etwas verpasst.
2. The Batman
Seit ich den neuen Batman gesehen habe, geht mir der Soundtrack nicht aus den Ohren. Genau so muss sich das Thema des dunklen Ritters anhören. Genau wie in "The Batman" muss sich das Batmobil anfühlen. Und genau solch ein düsteres Detektivspiel, das ein wenig an David Fincher erinnert, möchte ich den Fledermausmann lösen sehen.
Nach den sehr realistischen Nolan-Filmen wird Gotham City wieder etwas näher am Gothic interpretiert und geht stärker auf die ursprüngliche Identität der Detective Comics ein. Es ist bezeichnend, was DC immer dann für bahnbrechende Filme macht, wenn sie nicht als Teil des Extended Universe aufgezogen werden. Vielleicht sollte man ja dabei bleiben.
1. Everything Everywhere All at Once
Wie viel Spaß kann ein Film machen? Um es kurz zu machen: ein Film, in dem ein Buttplug das tragende Element einer Kampfszene ist, in dem sich zwei Steine unterhalten, hat mich gleichzeitig zu Tränen gerührt. Diesen Spagat zwischen liebevollem Unsinn, präzise choreographierter Action und dem Familiendrama einer Migrantenfamilie kann man gar nicht hoch genug loben. Gleichzeitig ist dieses Werk eine Verbeugung vor dem klassischen Hong Kong Kino voller Referenzen für Filmnerds und ein Denkmal für Michelle Yeoh.
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